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Bei mehr als vier Prozent der 10- bis 17-Jährigen in Deutschland liegt ein sogenanntes „pathologisches Nutzungsverhalten von Smartphone und Computer vor“, also ein Suchtverhalten.

Symptome dafür sind laut Experten: Kontrollverlust, eine „Priorisierung gegenüber anderen Aktivitäten“ und eine Fortsetzung der Nutzung trotz negativer Konsequenzen.

Um zu verstehen, wie Sucht entsteht, hat unser Autor sich einmal angesehen, wie Spieleentwickler eigentlich arbeiten – und welcher Mechanismus hinter Games steckt.

Eltern stecken heute in der Klemme. Sie müssen sich immer wieder fragen: Wie viel Zeit darf mein Kind mit Computerspielen verbringen – und wann ist es zu viel? Anders gesagt: Wo hört der Spaß auf und wo beginnt Sucht? Als Vater von zwei Kindern führe ich die Diskussion darum manchmal wöchentlich, manchmal täglich. Unser Sohn ist jetzt zwölf Jahre alt, unsere Tochter zehn, sie sind damit im besten Alter, um eine solide Gaming-Abhängigkeit zu entwickeln.

Aber ist das eine realistische Gefahr? Eine Studie des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) im Auftrag der Krankenkasse DAK hat ergeben: Bei mehr als vier Prozent der 10- bis 17-Jährigen in Deutschland liegt ein sogenanntes „pathologisches Nutzungsverhalten von Smartphone und Computer vor“. Symptome laut der Experten: Wenn bei den Betroffenen ein Kontrollverlust, eine „Priorisierung gegenüber anderen Aktivitäten“ und eine Fortsetzung der Nutzung trotz negativer Konsequenzen zu beobachten ist. Die drohenden Folgen aus ihrer Sicht: persönliche, familiäre und schulische Ziele treten in den Hintergrund, alterstypische Entwicklungsprozesse werden gehemmt.

Meine Kinder würden jetzt sagen: Siehst du, 96 Prozent zocken ganz normal und sind nicht süchtig! Ja, das Debattieren haben sie rund um das „Zocken“ gelernt, wobei die Argumente vorhersehbar sind. Sie lauten: „XX darf viel mehr spielen als ich.“ Oder: „Niemand in der Klasse/der Straße/der Schule/der Welt darf so wenig spielen wie ich.“ Oder auch: „Ich möchte Profi-Gamer werden und MUSS trainieren.“ Stellt euch dazu gern Wehklagen oder Türenschlagen vor.

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Das Gefühl: Wir sind die gemeinsten Eltern der Welt

Natürlich kenne ich sämtliche Empfehlungen zur Spielzeit von Kindern, Initiativen wie „Schau Hin“ sagen zum Beispiel: maximal eine Stunde Bildschirmzeit täglich für 7- bis 10-Jährige. Bei Kindern über zehn Jahren am besten ein wöchentliches Kontingent, zum Beispiel neun Stunden.

Ist das realistisch? Unsere Zwölfjähriger darf täglich eine Stunde spielen. Aber dann kommen noch eineinhalb Stunden Handyzeit und noch mal eine Stunde Fernsehen dazu. Bei unserer Tochter ist es eine halbe Stunde Zocken plus eine Stunde TV und Spotify. Schon damit liegen wir über den Empfehlungen. Dennoch haben wir das Gefühl, die gemeinsten Eltern der Welt zu sein. Denn die meisten anderen Eltern sind offenbar deutlich freizügiger.

Es gibt immer ein Kind, das überhaupt keine Einschränkungen hat, das mit acht Jahren schon ein Handy besitzt, das mit neun Jahren den Ego-Shooter „Fortnite“ spielt und das mit zehn Jahren einen Tiktok-Account hat und 34 Spiele auf dem Smartphone. Dennoch sind das oft nette und fröhliche Kinder. Und: Laut dem Digitalverband Bitkom spielen die 10- bis 18-Jährigen in Deutschland täglich zwei Stunden und 29 Minuten an Handy oder Computer oder Konsole. Deutlich mehr also als unsere Kinder.

Sind wir einfach digitale Helikopter-Eltern und Gaming-Sucht ist ein Mythos? Ich bin wirklich geschwankt – bis ich von William Siu hörte.

Siu ist US-Amerikaner und er gründete 2009 eine Firma für Handyspiele: „Storm8“. Mehr als fünfzig Spiele entwickelte sein Team in den folgenden Jahren, sie wurden mehr als eine Milliarde Mal heruntergeladen. Wie sie das geschafft haben? Mithilfe von Neurowissenschaftlern und Psychologen wurden die Spiele so designt, dass die Nutzer gar nicht anders konnten, als immer weiterzumachen. „Wir haben alles überwacht und analysiert, was die Spieler taten, wir haben mit Features experimentiert – alles für das Ziel, sie möglichst lange im Spiel zu halten und möglichst viel Geld damit ausgeben“, erklärt Siu in der „New York Times“. Gamingsucht war sozusagen das Entwicklungsziel. Und wie genau wurde das erreicht?

Über Gewohnheiten in die Sucht

Das Prinzip: Siu beschreibt es am Beispiel von „Candy Crush“, einem Handyspiel, bei dem man gleiche Bonbons in eine Reihe schieben muss. Man hat fünf Leben pro Tag – wenn die aufgebraucht sind, kann man nicht mehr spielen. Diese Beschränkung spricht eigentlich gegen suchthaftes Spielen, oder? Siu vergleicht das mit einem Schokoladenkuchen: Wenn man den einem Freund komplett gibt, isst er vielleicht alles auf, weil er so lecker ist. Aber dann ist er möglicherweise auch übergessen und hat erst mal genug.

Wenn man ihm aber jeden Tag nur ein Stück gibt, entwickelt sich eine Gewohnheit. Siu: „Das ist das ultimative Ziel: Spiele zu entwerfen, zu denen die Spieler ganz sicher jeden Tag zurückkommen. Man nimmt ihnen den Entscheidungsprozess.“ So machen es auch viele andere Handyspiele: Über Belohnungen oder tägliche Aufgaben kommen Spieler immer wieder, das Gehirn wird jedes mal neu stimuliert, der Glücks-Botenstoff Dopamin ausgeschüttet. Es entsteht eine Gewohnheit – und dann Sucht.

Für Siu war das lange kein Problem, denn er sagte sich: Ich bringe den Kindern ja Unterhaltung und Spaß. Doch dann wurde er selbst Vater zweier Töchter – und fragte sich, ob er seine Spiele wirklich in ihren Händen sehen möchte. Sie sind jetzt drei und vier Jahre alt und er hat ihnen noch keins seiner Spiele auch nur gezeigt. Zu Hause erzählte er, er entwickle Brettspiele. 2020 verkaufte er schließlich seine Firma und sagt heute: „Ich denke nicht, dass wir genug tun, um unsere Kinder vor den möglichen Einflüssen und Folgen von Games zu schützen.“

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Was können Eltern tun?

Manche Länder greifen hart durch. In China gilt seit 2021: Online-Spiele sind für alle unter 18 Jahren nur am Wochenende sowie an Feiertagen für je eine Stunde (20 bis 21 Uhr) erlaubt. In Belgien und den Niederlanden sind Spiele-Apps mit „Lootboxen“ (Belohnungs-Truhen, die man im Spiel finden muss) verboten.

Siu rät von knallharten Verboten aber ab. Seine drei Empfehlungen:

1. Elterntraining: Wir sollten wissen, was unsere Kinder spielen und bessere Gatekeeper sein.

2. Bildschirmzeit checken: Man kann nur Verhalten ändern, das auch messbar ist. Also guckt mal mit euren Kindern in die Bildschirmzeit-Option ihrer Handys. Wie viel Zeit geht dafür wirklich drauf? Wann gibt es mal Auszeiten? Ihr werdet überrascht sein.

3. Für Balance und Ausgleich sorgen. Kinder brauchen auch digitale Wellness. Unsere Eltern haben uns immer wieder Obst und Gemüse angeboten als Ausgleich zu Süßigkeiten. Bietet euren Kindern Ausgleich zu Bildschirmzeit. Also Bewegung, Sport, frische Luft, gemeinsame Unternehmungen. Möglicherweise auch als Bedingung für Spielzeit. Süßes gibt es ja auch erst nach dem Mittagessen. Siu: „Wir sollten lernen, dass digitale Wellness so wichtig ist wie physische.“

Nachdem ich das habe sacken lassen, war meine erste Konsequenz: Es gibt auf den Handys unserer Kinder keine Spiele mehr. Unser Großer hat dafür eine halbe Stunde mehr Online-Zeit, unsere Tochter wird sich von Beginn an daran gewöhnen, das Handy nicht als Spielekonsole zu nutzen. Bei voll bezahlten Konsolenspielen weiß ich wenigstens, dass sie nicht zu In-App-Käufen verlockt werden.

Und: Ich habe selbst „Clash Royal“ von meinem Handy gelöscht. Das war mein Suchtspiel, das ich praktisch täglich gezockt habe. Dafür machen wir in den Ferien einen Gaming-Tag, an dem richtig viel gespielt wird. Stichwort: Schokoladenkuchen.

Ich merke auf jeden Fall: Es fällt mir inzwischen deutlich leichter, gegen Spiele wie „Brawlstars“ zu argumentieren und Bildschirmzeiten zu begrenzen. Denn ich weiß jetzt: Die größten Tech-Konzerne der Welt kämpfen um die Aufmerksamkeit unserer Kinder. Und wir sollten dafür sorgen, dass sie ihnen nicht hilflos gegenüberstehen.

William Siu entwickelt übrigens immer noch Spiele. Im Rahmen eines Projekts hat er mit zwei Kindergärtnerinnen ein Game entwickelt, mit dem Vorschulkinder Mathe lernen. Hier konnte er sein Wissen wirklich sinnvoll nutzen: Nach zwei Monaten konnten alle Kinder bis hundert zählen und leichte Aufgaben lösen.

Der Autor arbeitet als Coach und Familienberater in Berlin (michael-witt.de)

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